Eine schwierige Entscheidung

 

Zwei kleine Patschhändchen versuchen unbeholfen, meine

Augenlider zu öffnen.

Es ist Sonntagmorgen, 6 Uhr früh Himmel, kann dieses Kind mich nicht einmal wach werden lassen, wie meine Natur es mir vorgibt?

Ich schubse meinen Mann, der sich, wie immer in solchen Situationen, erst mal tot stellt, an: „Du bist dran mit Frühstück-Machen.“

Widerwillig rollt er sich aus dem Bett und zieht mit unserer Tochter ab.

Noch eine halbe Stunde, bis der ganz normale Wahnsinn mich wieder hat.

Dabei ist es eben dieser ganz NORMALE Wahnsinn, der mich heute glücklich macht.

Meine Gedanken schweifen in die Vergangenheit.

Mit sage und schreibe 43 Jahren wurde ich noch mal schwanger.

Natürlich nicht unbedingt geplant.

Die Gefühle unmittelbar nach dem Schwangerschaftstest kann ich nut mit dem Wort „Chaos“ beschreiben.

Zwei erwachsene Söhne und dann noch mal von vorne anfangen.

Bin ich dieser Aufgabe, diesem Stress nervlich überhaupt gewachsen?

Meine ohnehin schon bescheidene finanzielle Situation würde sich nicht verbessern, wenn ich zwangsläufig aufhören müsste, zu arbeiten.

Was werden meine Söhne dazu sagen?

Mein Mann und ich hatten uns erst drei Monate vorher kennen gelernt.

Tausend Gedanken vernebelten meinen Sinn.

Wird die Beziehung halten?

Oder wird dieses Kind ohne Vater aufwachsen müssen?

Wird es sich irgendwann für seine alte Mutter schämen?

Wieder Bastelnachmittage im Kindergaren, wieder schlaflose Nächte, wieder Trotzanfälle durchstehen müssen.

Die ganzen Veränderungen in meinem inzwischen wieder unabhängigen Leben.

Wie komme ich damit klar?

Ein Schwangerschaftsabbruch stand nicht zur Debatte.

Wenn ich behaupten würde, ich hätte mich von der ersten Minute an gefreut, müsste ich lügen.

Zu viele Fragen und zu viele Unsicherheitsfaktoren schwirrten durch meinen Kopf.

Da musste ich erst mal drüber schlafen. Am nächsten Morgen hatte sich der Nebel in meinem Hirn verflüchtigt und die Sonne strahlte mir mitten ins Herz. Von dem Moment an war dieses Kind ein Wunschkind.

Die ersten Vorsorgeuntersuchungen verliefen ereignislos. Alles in Ordnung.

Die schlaflosen Nächte begannen erst, als mein Gynäkologe mir riet, eine Fruchtwasserspiegelung machen zu lassen. Wollte ich das überhaupt?

Es war nicht die Angst vor der Untersuchung, die mir so zu schaffen machte, sondern die Angst vor der Entscheidung, falls dieses Kind behindert wäre.

Welche Art von Behinderung wäre für mich ein Grund das Baby wegmachen zu lassen?

Ein Kind mit Down-Syndrom hätte ich sicher nicht abtreiben lassen.

Aber wo war für mich die Grenze?

Wie stark müsste das Kind behindert sein, dass ich sagen würde: Dich will ich nicht!

Außerdem fand ich, dass es nicht in meiner Hand lag, den Herrscher über Leben und Tod zu spielen.

Nächtelang wälzte ich mich hin und her und tagsüber las ich alles, was ich über pränatale Frühdiagnostik finden konnte.

Ich nenne es „Ironie des Schicksals“, dass gerade zu dieser Zeit eine Dokumentation zu dem Thema im Fernsehen gezeigt wurde.

Was ich dort sah, ließ mein Blut in den Adern gefrieren.

Man darf heute ein behindertes Kind bis zwei Wochen vor der Entbindung abtreiben.

Ich war total geschockt!

Wo sollte das noch hinführen?

Kommen da wieder Zeiten auf uns zu wie im Dritten Reich?

Ist es demnächst normal, ein Kind, das mit drei Jahren vor ein Auto läuft und querschnittsgelähmt ist, abzulehnen.

Was soll ein 18jähriger Rollstuhlfahrer denken? Bin ich der nächste, der aussortiert wird?

Da wollte ich auf gar keinen Fall mitspielen.

Hinzu kam das Wissen, dass man Embryos nach der zwanzigsten Schwangerschaftswoche normal gebären muss.

Und frühestens dann hat man das Ergebnis der Amnioskopie.

Ich war ja jetzt schon mit meinem ganzen Herzen schwanger, wie sollte ich mich dann noch von meinem Baby trennen können?

Falls es wider Erwarten lebend das Licht der Welt erblickt, sollte ich tatenlos zusehen, wie es stirbt?

Nein, das wollte ich auf keinen Fall.

Nach sieben schlaflosen Nächten stand mein Entschluss fest.

Bei diesem Wahnsinn wollte ich nicht mitmachen.

Wenn es für mich bestimmt sein sollte, ein behindertes Kind großzuziehen, dann würde ich diese Herausforderung mit Liebe annehmen.

Nun war ich auf die Reaktion meines Frauenarztes gespannt..

Würde er mich für total bescheuert und fahrlässig erklären?

Als ich ihm erklärte, warum ich mich gegen diese Untersuchung entschieden hatte, lächelte er mich an und sagte; „Ich kann Ihren Mut und Ihre Einstellung nur bewundern. Sie sind die erste Frau über 30 in meiner Praxis, die sich gegen die Amnioskopie entscheidet und bereit ist, dieses Risiko einzugehen.“

Er hätte auch anders reagieren können, das wäre mir egal gewesen.

Ich hatte meinen inneren Frieden gefunden und konnte wieder tief und fest schlafen.

 

Wenn meine gesunde Tochter heute versucht, mir mit ihren kleinen Patschhändchen die Augenlider zu öffnen, dann freue ich mich auf jeden neuen Tag, an dem ich diesen ganz NORMALEN Wahnsinn erleben darf.