Wo darf ich mich setzen, bitte?

Es gibt sicher wenige Dinge innerhalb dieses Universums, die eine dreifache Mutter noch in Erstaunen versetzen können. Das Phänomen „Mutter sitzt“ gehört zweifellos dazu. Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, dass Mütter sich niemals und unter keinen Umständen setzen dürfen.

Jedes Mal, wenn meine armen, müden Gichtknöchelchen danach verlangen, sich für zwei winzige Minütchen auszuruhen, klingelt garantiert das Telefon zum dreiundzwanzigsten Mal , die Katze kotzt in den Handarbeitskorb, meine Tochter hat sich beim Malen das Bein gebrochen, mein Sohn fährt mit meinem Auto die Mülltonne über den Haufen, an der Haustüre klingeln neun Nachbarskinder Sturm, um mir mitzuteilen, dass unser Hund gerade den Nachbarshund schwängert, das Baby hat den Schnuller und mein Mann die Beherrschung verloren.

Heute morgen, als mein Göttergatte und fast alle Kinder aus dem Haus waren, Baby, Hund und Katze friedlich schliefen, nahm ich wagemutig Tageszeitung und Lesebrille und schlich auf Zehenspitzen Richtung Sofa. Der Schweiß rann mir in Strömen den Rücken runter und mein Blick war der eines an Verfolgungswahn leidenden Psychopathen.
Noch zwei Schritte!
Meine Nerven waren so angespannt wie der Gesichtsausdruck meines Mannes, wenn er Verdauung hat.
Noch ein Schritt!
Da zerriss ein gellender Schrei die Luft.
„Mamiiiiii!“
Das Blut gefror in meinen mütterlichen Adern. In den zweieinhalb Sekunden, die ich bis zur Türe brauchte, sah ich das gesamte Leben meines sicherlich blutüberströmten Zweitgeborenen an meinem geistigen Auge vorüber ziehen.
„Du hast vergessen, mich zu küssen, Mami!“
Das sind die Momente im Leben einer Mutter, wo ihr nicht nur das Herz, sondern zuweilen auch die Galle überfließt.

Nachdem ich die Katze frisch gewickelt und dem Baby den Fressnapf hingestellt hatte, wagte ich in meinem mittelalterlichen Leichtsinn den nächsten Versuch, mein cellulitisgeplagtes Hinterteil aufs Sofa zu platzieren.
Vor Aufregung zitterten meine Beine so sehr, dass ich Angst hatte, die Stützstrümpfe zu verlieren.
Da! Was war das?
Zuerst dachte ich, ich höre mein eigenes Herz klopfen, aber nein, die zarten und vermutlich frisch manikürten Finger meiner kinderlosen Nachbarin pochten an die Terrassentür.
„Halloooo“, flötete sie. „Hast du schon die Zeitung von heute gelesen?“
„Nein, wieso?“
„Da steht ein interessanter Artikel über die Behandlung und Prophylaxe von Krampfadern drin. Na ja , du solltest mehrmals täglich deine Beine hochlegen.“
Sie musste wohl die Mordgelüste, die kurz in meinen Augen aufblitzten, registriert haben. Jedenfalls drehte sie sich auf ihren Stöckelschuhabsätzen um und trippelte von dannen, als wäre der Teufel mit einer Krampfaderinfektionsspritze hinter ihr her.

So konnte es auf keinen Fall weitergehen. In Gedanken spielte ich sämtliche Möglichkeiten durch, wie und wo ich mich hinsetzen konnte, ohne dass gleich mittelschwere Katastrophen auf mich einstürzten.
Ich telefonierte - vorsichtshalber im Stehen - mit einem netten Herren von der Volkshochschule und fragte:
„Sagen Sie, junger Mann, der Kursus 500 verschiedene Arten, die Beine übereinander zu schlagen ist wohl ausgebucht?“
„Tut mir Leid, der war schon nach zehn Minuten überbelegt.“ Mh, da hat vermutlich eine dreifache Mutter die Zeichen der Zeit erkannt, als sie diesen Kursus anbot...
„Wie wäre es denn mit dem Kurs Sex für überreife Frauen?“
Ich schaute an mir herunter, entdeckte die Beulen an den Knien meiner Jogginghose und lauter kleine, leicht säuerlich riechende Flecken im Schulterbereich meines ungebügelten T– Shirts und dachte: Meine Güte, du siehst in etwa so aufreizend aus wie eine frisch narkotisierte Nonne.
„Nee, junger Mann, das ist nichts für mich. Wissen Sie, ich möchte mich einfach mal ungestört setzen.“
„Dann bringen Sie Ihren Mann um die Ecke!“, sagte er leicht genervt und legte den Hörer auf.
So weit hatte ich nicht mal gedacht. Vielleicht fällt mir was Einfacheres ein, obwohl......verdient hätte er es ja. Vermutlich würde ER noch in seinem Fernsehsessel sitzen bleiben, wenn die Flammen an seinen Beinen hoch züngelten, der Rest der Familie bereits evakuiert wäre und die Feuerwehrmänner ihn unter Strafandrohung und Lebensgefahr aus dem Haus schleppten, mit Sessel, versteht sich.

Die Volkshochschule war also auch ein Schuss in den Ofen. Was dann?
Wo, um Himmels willen, kann ich meine Gummistrümpfe, samt ihrem leicht aus der Form geratenem Inhalt, mal ungestört baumeln lassen?
Ich hab`s! Beim Arzt!
Im Wartezimmer war kein Stuhl mehr frei.
Nach anderthalb Stunden stehenden Wartens wurde ich von einer sitzenden Arzthelferin per Mikrophon aufgerufen und ins Behandlungszimmer geschickt.
Auf wackligen Beinen stolperte ich vor den Schreibtisch des Arztes. Mein gehetzter Blick suchte verzweifelt nach einer Sitzmöglichkeit. Meine Hände zitterten unkontrolliert und mein Atem ging nur noch stoßweise:
„Wo...wo....wo...darf ich mich hin setzen, Herr....Herr Doktor?“
Er schaute mich leicht irritiert an.
„Schauen Sie mich nicht an wie ein Hering kurz bevor er ausgenommen wird.
„Wo....wo...bitte darf ich ....mich hin setzen?“
„Na, am besten auf einen Stuhl“, sagte er überheblich. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, als ob er bereits überlegte mich in die geschlossenen Abteilung der Landesklinik einweisen zu lassen. Vollkommen hysterisch schrie ich:
„Ich will nicht die einzige Frau Deutschlands sein, die vom vielen Stehen einen dicken Hintern kriegt. Wo....wo....darf ich mich hin setzen, verdammt noch mal?“
„Nun beruhigen Sie sich mal!“
Ich ging einen Schritt auf ihn zu, mir tropfte vermutlich nicht nur der Speichel aus dem Mund, sondern auch der helle Wahnsinn aus meinen entgleisten Gesichtszügen.
„Wo, wo, wo, wo?????“
Keine Ahnung, wie es passieren konnte, dass ich ihm plötzlich das Stethoskop um den fachärztlichen Hals wickelte.
Und keine Ahnung, warum es plötzlich in dem Behandlungsraum so aussah, als wäre eine Horde wildgewordener Nilpferde hindurch marschiert.
Mein Erinnerungsvermögen setzte erst vor der Praxistüre wieder ein, als eine mir seit vierzehn Ehejahren bekannte Stimme vermeintlich besänftigend ins Ohr flüsterte:
„Komm nach Hause, mein Liebling, du brauchst ein wenig Ruhe. Die lieben Kinder warten schon auf dich!“